Angriff auf die Curva Sud (oder: Überwachen und Strafen, Kapitel 2)

Auf die in einem früheren Schreiben gestellten Fragen haben wir bis jetzt keine Antworten erhalten, hingegen schlug in der Zwischenzeit die harte, repressive Hand desjenigen, „der seit Jahren geflissentlich daran arbeitet, Nulltoleranz durchzuset- zen und die organisierte Fanszene zu zerstören”, wie erwartet heftig zu. Mittwoch, 14.3.2018, ab 6 Uhr morgens: Im Rahmen einer Grossaktion der Tes- siner Polizei unter Leitung des Staatsanwalts Nicola Respini werden 16 Fans des HCAP zuhause verhaftet und abgeführt. Zahlreiche Häuser werden durchsucht, in denen Gegenstände jeglicher Art beschlagnahmt werden: Pullover, Schals, Au- fkleber, Kalender, und wenige pyrotechnische Objekte. Die Mobiltelefone werden ebenfalls beschlagnahmt. Stellen wir uns den Schock und die Verunsicherung der Kinder, der Lebenspartner, der Freunde oder der Eltern vor, wenn am frühen Mor- gen Polizeikräfte mit einem Durchsuchungs- und Haftbefehl vor der Türe stehen. Die „Operazione Valascia”, erinnert in ihrem Ausmass an Polizeiaktionen gegen interna- tionalen Drogenhandel oder Geldwäscherei oder an Ermittlungen im Rahmen von Tötungsdelikten.

Eine auf jeden Fall sehr kostspielige Grossaktion (alle Verhafteten wurden nach den Befragungen individuell nach Lugano geführt zur Entnahme der DNA und zur erkennungsdienstlichen Behandlung), die unverhältnismässig erscheint, betrachtet man die Anschuldigungen – Landfriedensbruch, Vermummung, Gewalt und Drohung gegen Beamte, Verstoss gegen das Sprengstoffmittelgesetz – für Vorfälle die berei- ts zwei Monate zurückliegen. Seit jeher wird in solchen Fällen normalerweise eine polizeiliche Vorladung verschickt. Das Ganze wurde begleitet von einer verwirrenden und sehr unheimlichen medialen Berichterstattung, in der unpräzise Behauptungen und schwammige Informationen den Diskurs bestimmten, und die dazu geführt hat, dass nun plötzlich wir veran- twortlich für die Vorkommnisse vom 14.1.2018 sein sollen. Wir versuchen immer noch den Sinn hinter dem Ganzen zu verstehen und stellen deshalb erneut einige Fragen in den Raum. Fragen die sich aufdrängen, genauso wie sich der legitime Zweifel aufdrängt, dass hinter dem Ganzen eine präzise Strategie steckt, ausgeklügelt durch Regierungsrat Norman Gobbi und seine Freunde. Der gleiche Norman Gobbi, welcher der GBB vor Jahren Rache geschworen hatte, nachdem wir uns weigerten, uns mit einem billi- gen “Uhuhuh-Rassisten” an einen Tisch zu setzen. Dieser Norman Gobbi hat ent- scheidend dazu beigetragen, dass das Tessin sich heute in einem Sicherheitswahn wiederfindet – freiheitsbeschränkende Gesetze, geschlossene Grenzen, Repression gegen andere Meinungen – und das Antlitz eines Polizeistaates hat.

Vor 10 Tagen haben wir in deutlicher Art und Weise den Präsidenten, den Verwaltungsrat und den Verein HCAP kritisiert wegen einer anderen, jedoch nicht weniger wichtigen Angelegenheit. Diese Kritik hat einen Teil der blauweissen Fangemeinde verärgert, wir haben unsere Haltung aber anschliessend mit einem Communiqué genauer erklärt. Möglicherweise hat derjenige, der nun zugeschlagen hat, gut von der zurzeit schwierigen Situation der Curva profitiert. Aber immer noch nicht zufrieden, schlägt er schon mit der ande- ren Hand zu und will eine weitere diskriminierende Massnahme enormen Ausmasses einführen: das perso- nalisierte Ticket für alle Eishockey- und Fussballspiele der obersten beiden Ligen. Er heult im Fernsehen, „dass ihm die Hände gebunden seien wegen zu liberaler Gesetze“ und „dass wir etwas von unserer Freiheit aufgeben müssen zu Gunsten der Sicherheit“ und versucht sich mit einer neuen repressiven und nutzlosen Massnahme (wie bereits im italienischen Fussball gezeigt) zu profilieren. Eine hundertprozentige Sicherheit bei Menschenansammlungen hat es noch nie gegeben. Diese existiert höchstens in der Vorstellung einer totalitären Welt ohne jegliche Emotionen, in der Menschen wie Marionet- ten manipuliert werden, im Glauben, im strengen Gehorsam und der Disziplin. Eine Vorstellung, die offen- sichtlich nicht mit der Freiheit, der Leidenschaft, der Fantasie und der Menschlichkeit auf dem Planeten Valascia zu vereinbaren ist.

Denn auf alle Fälle und wo auch immer: wir bleiben so wie wir sind. Die Verhafteten und Ausgesperrten sind die gleichen, die seit Jahren in der Curva Sud stehen. Immer sind sie da: trotz steigenden Preisen, Leichtbier und 10 Jahren Playouts. Es sind diejenigen, die Fanmaterial verkaufen, Lieder erfinden, Fahnen schwingen, Choreographien erarbeiten, Solidaritätssammlungen organisieren, und Feste veranstalten um Mittel für die Juniorenabteilungen einzubringen. Es sind diejenigen, die sich hingestellt haben um die Vala- scia zu verteidigen und die es ohne jeglichen Zweifel wieder tun würden. Aber wir befinden uns in einer seltsamen, schweren und düsteren Zeit, in der Freude, Liebe und Solidarität rar geworden sind. Und was wir sehen ist eine gefährliche Person mit autoritärer Tendenz, die sich einer weitläufigen Sichtbarkeit und unzähligen Übungsplätzen für ihre Aktionen zu erfreuen scheint. Das ist gar nicht gut. Und es muss etwas unternommen werden um diese böse Wendung zu stoppen. Wir sind ausser- dem der Meinung, dass der HCAP sehr wenig tut, um seine Besonderheiten zu verteidigen, sein Publikum, die Curva Sud und sein Dasein als letzte Verrücktheit im modernen Sport. Wir hätten ein Minimum an Sel- bstkritik erwartet nach den Ereignissen vom 14.1.2018. Aber sei’s drum, jedem das seine. Wir übernehmen unsere Verantwortung und zeigen Gesicht, wie immer.

Zum Schluss rufen wir alle, die am 14.1.2018 anwesend waren, auf, ebenfalls Gesicht zu zeigen. Diejeni- gen die geholfen haben, die Lausanne Fans in ihren Sektor zurückzudrängen, diejenigen die gesehen ha- ben, wie die Polizei im Inneren wie im Äusseren des Stadions auf Leute einschlug, mit Gummigeschossen feuerte und Pfefferspray versprühte. Wir laden alle ein, sich bemerkbar zu machen, zu schreiben, das Wort zu ergreifen, um diesem unsäglichen Lärm ein Ende zu bereiten. Wir haben kein Selbstmitleid. Und wir senden die Politik der Angst an ihren Absender zurück. Dieser Schlag war heftig, dem sind wir uns bewusst. Aber wir krempeln die Ärmel hoch und werden wie gewohnt weiter- machen, denn diese Person werden wir nicht siegen lassen. Es wird nicht so einfach sein, uns Stumm zu schalten und auszulöschen. Wir sind weiterhin das gallische Dorf, das sich gegen den gefährlichen Caesar auflehnt.

Am 14.1.2018 haben wir auf eine Provokation reagiert und dadurch verhindert, dass weitaus Schlimmeres passiert ist. Wer an diesem Tag anwesend war, weiss das! Wir sind die Gbb, wir sind die Curva Sud, schön, rebellisch, besonders, kurz gesagt eine Kurve die demje- nigen unangenehm ist, der für eine Welt der Grenzen und Repression ist. Und wie jemand in der Vergangenheit gesagt hat: „Auf alle Fälle ohne Reue“.

Gioventù Biancoblu * Curva Sud Ambrì